ATEMPAUSEN (1985)

Ein Portrait Jan Niksinskis von Hatto Fischer

Mitteilungen des Instituts für modern Kunst Nürnberg Nr. 3637/38 Sept./Okt. 1985

Polnische Grafiken, meist dunkel-helle Kontrapunkte zu weitläufig pessimistischen Themen, reflektieren „Spuren der Zerstörung“. Ein hohes Niveau, d.h. handwerkliches Können, tragt dazu bei, dass diese Arbeiten durch das „Licht“ eine bestimmte Prägung erfahren. Jan Niksinski gehört zur jüngeren Generation polnischer Grafiker, die versucht, diesen Stil, etwas verändert, fortzusetzen. Er teilt mit vielen seiner Künstlerfreunde die Meinung, dass im Gegensatz zur klassischen Grafik viel weniger Literatur, wenn überhaupt, zitiert werden soll, denn das würde dem Kunstbild nur schaden. Folglich kommt es zu einer eigenständigen Symbolsprache mit vielerlei Zitaten aus der Geschichte, der Archäologie, der politischen Karikatur und der Plakatkunst. Damit zeichnet sich nicht nur eine eigene Annäherung an Kultur und Politik ab, sondern auch etwas „Fragmentarisches“, da der Künstler durch das ständige Reagieren auf statt-findende Veränderungen nicht mehr· zu einer eigenständigen Kontinuität kommen kann.

Bei Jan Niksinski ist das im Gegenüber von Grafik und Zeichnung zu erkennen. Während erstere mehr einer Experimentierphase mit verschiedenen „Misch-techniken“ (als Reaktion auf die unterschiedlichsten Themen und darum nicht leicht einprägsam) angehört, kennzeichnet die Zeichnung ein starkes Selbstbewusst-sein im Umgang mit „linienhaften Kontrasten“. Mit anderen Worten: Den eigenen Stil zeigt er unmittelbarer in den Zeichnungen als in den Grafiken. Dennoch unterscheidet sich – Jan Niksinski darin insofern von den anderen, als er abstrakter, zugleich anschaulicher, auflösbarer, Geschichten präsentiert und dies mit ‚warmem“ Humor.

Jan Niksinski lebt und arbeitet in einer Gegend in Warszawa, die mit Kreuzberg {Berlin) vergleichbar ist. Dort gibt es Armut, dunkle Hinterhöfe und triste Häuserfronten, aber auch einen blühenden Schwarzmarkt; entsprechend sind die sozialen Verhältnisse der Menschen zum Kunststudium ging. er zunächst nach Gdansk (Danzig), um es 1978 an der Akademie der Künste in Warszawa abzuschließen. Seitdem arbeitet er als Künstler; er bemüht sich, seine „abstrakte Symbolsprache“ zu verfeinern, um grafisch „Linien“ aus einer breiten Skala, die von konkreten. Gegenständen bis zu Schrift-Elementen oder geometrischen Konstellationen reicht, entstehen zu lassen

Seine grafische und zeichnerische Starke ist es, „Lichtfragmente“ sowohl poetisch, als auch „intellektuell“ zu erfassen. Er strebt „Atempausen“ an, um „Gewordenes“ (z. B aus einem Traum oder der Architektur – Geschichte einer Stadt) abermals aus abstrakter Sicht reflektierbar zu machen. Durch Auflösung des Konkreten fordert er den Dialog mit den Möglichkeiten des bereits „Gewordenen“. Niksinski zeigt also als Künstler, dass diese „Reste“ durchaus noch wertvoll sind; Voraussetzung ist allerdings, dass es zu einem lebendigen Gespräch über die „Existenz der Dinge“ kommt, die einst Objekte intellektuellen Interesses waren und heute fast nahezu in einer anti-Intellektuellen Welt verschüttet sind. Das „Wahrnehmungsproblem“ allein scheint niemanden mehr zu interessieren, auch nicht von Seiten der Kunst.

Jan Niksinski geht davon aus, dass die menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten einem abstrakten Universum angehören. Um dorthin zu gelangen, muss es seiner Auffassung nach erst eine Auflösung des Konkreten geben. Der Nachteil eines solch fragmentarischen Kontrastes zeigt sich aber erst in der Rezeptionshaltung dieser Bilder. Es entsteht die Neigung, alles in bloße Formen des Wiedererkennens {mittels vertrauter Gegenstände) zu packen, um das Abstrakte abermals zu konkretisieren. Dies führt zu Beschränkungen in den Assoziationsmöglichkeiten, zum Rekurs auf Hilfskonstruktionen einem Verbleiben an der Oberfläche, und macht nicht, frei von „Sehgewohnheiten“. Bilder so betrachtet, atmen nicht mehr – wie ein „Fisch“ ohne Wasser und Sauerstoff. Jan Niksinski thematisiert, ähnlich dem Philosophen, Schwierigkeiten der Wahrnehmung in dieser Welt. Er benutzt zur Verdeutlichung seiner aliteraischen Annäherung einfache Symbolfiguren {der Mathematik oder Schrift entnommen), um damit das Bild zu umspannen. Er will die Fragmente zueinander in Beziehung bringen, um so ein Gespräch zwischen konkreten und abstrakten Wahrnehmungsvorgängen zu ermöglichen. Das hat wiederum mit seiner Bemühung um neue Erinnerungsmöglichkeiten an verschiedene Sehweisen zu tun. Voraussetzung dazu sind die Atempausen – so, als ob vor Beginn der Arbeit erstmals der Sonnenaufgang bewusst erlebt werden würde. Sein Bild „Fisch geträumt“ kann als Beispiel für dieses intellektuelle Bemühen genommen werden. Hier zeigt er nicht nur einen Unterschied zwischen Realität und Abstraktion linienmäßig auf, sondern auch mögliche Assoziationen, die im Abstrakten fürs Konkrete entstehen. Angehäufte Linien können deshalb sowohl das Schilf, wodurch der angedeutete Fisch schwimmt, als auch ein Bündel Reisig sein. Die Assoziation auf der Vorstellungsebene reflektiert eine Bedingung des Traumes vom zukünftigen Leben: Es muss gegenüber der Realität „artikulierbar“ sein, bzw. im stark belasteten Verhältnis zwischen Unbewusstem und Bewusstsein standhalten können. Die Zeichnungen sind frei von apokalyptischen Tönen, insofern., als sie im Vergleich zu Sigmund Freuds „Wunderblock“ an Wachsplatten, in denen „Erinnerungslinien“ sichtbar bleiben, denken lassen.

Niksinskis Versuch, pessimistische Aussagen zu vermeiden, gelingt nicht immer. Dafür bilden vor allem seine Grafiken eine Möglichkeit, an die Kulturgeschichte des Abendlandes heranzutreten. Auf einer Grafik sind oben im Bild Bücher mit Spinnennetzen verhangen, ganz unten ·dagegen sind Teile des Rosetta Steines zu sehen. Die Mitte des Bildes teilt sich in zwei unterschiedliche Räumlichkeiten auf. Eine Räumlichkeit wirkt expansiv, flächenmassig, die andere durch ihre Tiefe. Das ganze Bild suggeriert: etliches der Kulturgeschichte liegt brach. Außerdem ist ein modernes Kunstproblem spürbar: Die Entäußerung der Form verleitet zur Entfremdung, zum Verfehlen praktischem Maßstab. Eine Häufung symbolischer, und damit eng mit der Kulturgeschichte verbundener politischer Botschaften tragt zur Verflachung des Bildes bei. Aufgefangen wird dies aber durch eine dramatische Zuspitzung in der „Ambivalenz“.

Im Bild können es Vögel, Tauben, Flugzeuge aber auch eine brennende Buchseite sein, die wie „Geier“ über einer Stelle im Bild, und zwar einer Unkenntlichen, kreisen. Diesen Ort des „Nichts“ , der aus bloßen Unverbindlichkeiten besteht, scheint Jan Niksinski damit symbolisieren zu wollen. Er tut es wiederum abstrakt, d.h. mi t einem Minus- und Plus- neben einem Infinitiv-zeichen. Jene Zeichen sind entweder Ausdruck der Sprache des Optikers gegenüber Sehschwierigkeiten, oder es erscheint etwas im Gewehrvisier. Das ganze Bild beschreibt damit metaphysisch gewisse Spannungen, die nur in einer „Geschichte“ der Lesarten und Sehweisen aufzulösen sind. Niksinski hält die Frage nach Fortschritten in der Kulturgeschichte für ungeklärt: Die Menschen kreisen sichin ihrem Bewusstseinfürs „Vergebliche“ selbst ein. Das geschieht im Bilddurch den Kontrast: Weiter oben, sozusagen zwischen beiden Räumlichkeiten in der Mitte, ist das Symbol der Vollkommenheit (wie Kant es verwendet) zu sehen, nämlich der Kreis.

Jan Niksinski will auf der Ebene abstrakter Zeichen ‚ grafisch bzw. zeichnerisch emotionaleund intellektuelle Möglichkeiten zur Wahrnehmung beschreiben. Er begibt sich damit in die Nähe zu fragilen Erfahrungen, weil sie Fragen und „Staunen“ voraussetzen. Der Künstler halt das fragmentarisch gewordene Licht zeichnerisch fest. Hier wird Kunstsprache symbolhaft zur geistigen Materie. Er zeigt nicht vielFiguratives.

In Grafiken, die „Hauserfronten“ zeigen, wird das Bemühen und eine „Renaissancedes Blickes“ sichtbar. Ähnlich der These des Religionsphilosophen Klaus Heinrich zur „Faszination für Ruinen“, verlängert Niksinski die Reliefs einer Häuserfront ins Abstrakte, d.h. in einen anderen Raum erfahrbarer Linienhinein, und die geometrische Realität des Konkreten, in diesem Falle die Häuser, sichtbar zu machen.

Durchgängig in sämtlichen Arbeitenist der Kontrast zwischen Konkretem und Abstraktem. Einmal thematisch festgelegt auf Auflösungen des konkreten Gegenstandes, formt sich sozusagen die „geistige Materie“ des Bildes aus dem Aufzeigen bloßer „Linien. Wie bei einem „Experiment mundi“, will er abstrakt weitere Möglichkeiten zur poetischen Erfassung des „Lichtes“ aufzeigen. Das ist durchaus eine optimistische Haltung. Sie entspricht einemphilosophischen Naturell, praktische Urteile gelten zu lassen, und zwar möglichst frei von einer ansonsten negativen verbleibenden Symbolsprache derpolnischen Grafik. Letztlich will er auf eine Kontrastierung der Realität zum „Prinzip Hoffnung“ hinaus, weil die Hoffnung bedingter Weise nur dort entstehen kann, wo es eine mögliche Umschichtung an Erfahrungen und deshalb ein Frei-Kommen von „Vorurteilen“ geben kann. Gelingt ihm diese Konkretisierung im Abstrakten, dann entstehen zumindest kleine Atempausen im Winkelspielzwischen Linien und Form: das „Lichtfragment“, dessen die Augen bedürfen, und zu sehen.

.