Mein Manifest

Mein Manifest

"Die Kunst beginnt dort, wo die Realität endet."

EINFÜHRUNG

Schon vor langer Zeit ist mir bewusst geworden, dass alle meine Bilder einen gemeinsamen, leicht erkennbaren Stil aufweisen. Dabei hatte ich nie die Absicht, in meiner Malerei einen eigenen Stil zu entwickeln. Ein Bild zu malen bedeutete für mich immer, eine ganz neue Welt zu erschaffen, zu einer Wanderung ins Unbekannte aufzubrechen. Oft schienen mir meine Bilder so unterschiedlich, dass ich kaum damit rechnete, daraus eine zusammenhängende Ausstellung machen zu können. Und doch kam es mir immer häufiger zu Ohren, dass verschiedene Menschen, die irgendwann irgendwo zufällig mein Bild (ob im Realen, ob im Internet) sahen, es problemlos als mein Werk identifizierten, selbst wenn es ihnen ganz unbekannt war. Ein wenig verwundert hat mich das schon, weil ich in den langen ersten Schaffensjahren nicht imstande war, in diesen Bildern irgendwelche gemeinsamen Züge zu erkennen. Dennoch war ich immer fester von der Originalität meiner Bilder überzeugt, weil ich trotz langer Suche nichts in der Weltkunst finden konnte, was meiner Malerei ähnlich wäre. Ich habe mich sogar zu einem Preisausschreiben hinreißen lassen, dessen Gewinner eines meiner Bilder bekommen sollte, wenn er einen Maler nennt, der ähnliche Bilder wie ich malt (oder malte). Es vergingen Jahre, und niemand hat sich bei mir gemeldet.

Einerseits war ich über diese Originalität meines Schaffens stolz, andererseits fühlte ich mich ein wenig einsam, denn ich konnte mich weder als Mitglied einer Künstlergruppe sehen noch einen „Kompagnon“ auf meinem Schaffensweg treffen. Allmählich wurde ich zu einem Einzelgänger, wie es im Deutschen heißt.

In der Geschichte gibt es jedoch viele Künstler, die ich als meine Meister ansehe und mit denen ich oft in meinen Bildern Gespräche zu führen versuche, oder als gute Freunde betrachte, die mich auf dem schwierigen Weg des malerischen Schaffens begleiten. Nicht nur Maler gehören dazu, sondern auch Komponisten, Schriftsteller oder Dichter – wie etwa Giotto di Bondone, Jacopo  Tintoretto, Georges de La Tour, Artur Nacht-Samborski, Piotr Potworowski, Mark Rothko, David Hockney, Luc Tuymans, der albanische Maler Edi Hila sowie Olivier Messiaen, Witold Lutosławski, Paweł

Szymański, Marcin Masecki, Witold Gombrowicz, Witkacy, Thomas Bernhard. Von den Theaterleuten sind hier zweifellos Tadeusz Kantor, Krystian Lupa, Joanna Szczepkowska und Willi Bernhart zu nennen.

Es geschah wohl auf meiner ersten Retrospektive, die 2018 im Haus des Bildenden Künstlers (Dom Artysty Plastyka) in Warschau stattfand und fast alle zugänglichen Bilder aus den vierzig Jahren meines Schaffens umfasste, als ich mit großer Genugtuung feststellte, es sei mir im Laufe dieser Zeit doch gelungen, einen eigenen, leicht erkennbaren Stil zu entwickeln. In dieser Ausstellung habe ich in manchen Fällen Bilder nebeneinander aufgehängt, zwischen deren Entstehung 20–30 Jahre lagen, trotzdem haben diese Bilder zu meinem Erstaunen gut miteinander „kommuniziert“ und einander gar nicht gestört.

DEFINITION DES STILS

Oft versuchte ich in verschiedenen Texten, meinen Stil zu definieren. Der erste Text, 1993 deutsch geschrieben, trug den Titel „Rhythmus und Relativismus“. Später verfasste ich den Text „Relativismus in der Kunst“ (11.03.2001), der mit kleinen Modifizierungen eine Übersetzung des deutschen Textes war, und publizierte ihn im Katalog „Obrazy i …Obrazy“ (Bilder und …Bilder) von 2001. Eine neue Fassung dieses Textes erschien in meinem Katalog „Transcendencja obrazu“ (Transzendenz des Bildes). Sein Hauptmotto war meine These: „Kunst beginnt dort, wo die Wirklichkeit endet“.

Der nächste Text, in dem ich meine Kunst zu definieren versuchte, trug den Titel „Obrazy… i obrazy“ von 2003, wo ich verschiedene Aspekte der Wahrnehmung und des Verstehens der Bilder darlegte und nachwies, dass zwischen dem, was man objektiv sieht, und dem, was subjektiv zu sehen ist und oft mit dem Wissen zum jeweiligen Thema infiziert ist, ein riesengroßer Unterschied besteht. Auch dieser Text ist in voller Länge im Katalog „Transcendencja obrazu“ (Transzendenz des Bildes) abgedruckt.

Im Text „Szpary Pęknięcia i Zasłony” (Spalte Brüche und Verschleierungen) von 2007 versuchte ich, meine Bilder zum ersten Mal von rein visueller Seite her zu definieren, nachdem es mir bewusst wurde, dass diese drei Elemente in allen von ihnen vorkommen. Dieser Text liegt ebenfalls im Katalog „Transcendencja obrazu“ vor. All diese Texte sind auch auf meiner Webseite www.niksinski.com zugänglich.

Der letzte Text, den ich über mein Schaffen verfasst habe, ist eigens zur Retrospektive „Transcendencja obrazu“ entstanden. Er ist ebenfalls im Katalog dieser Ausstellung zu lesen. Mein Stil ist allerdings dermaßen vielfassend, dass ihn all diese Texte nur teilweise umreißen. Um eine Theorie meines neuen Stils so zu formulieren, dass dessen Prinzipien für jeden klar werden, versuche ich ihn jetzt vorzustellen.

Sein Hauptmerkmal ist die Verbindung von Tradition und Avantgarde, also vom  Wissen um das in der Kunstgeschichte Gewesene und von der Achtung davor, aber auch die Suche nach einem eigenen Platz in der Reihe alter Meister, indem ich auf alte Maltechniken und -methoden zurückgreife und zugleich bemüht bin, meine eigene individuelle Sprache zu finden. Meine Malerei balanciert stets zwischen Realismus und Abstraktion, wo ich das Realistische relativiere und es abstrakt male, das Abstrakte hingegen in Richtung Realismus zu verschieben versuche. Ich habe auch keinerlei Hemmungen, beim Malen alle möglichen Mittel einzusetzen, die ich mit dem jeweiligen Thema assoziiere. Oft ergibt sich ein Bild auch daraus, dass ich eine neue Technik oder für mich neue Malmaterialien entdecke. Um überhaupt mit dem Malen anzufangen, brauche ich meist ein fertiges Bild. Das können ein Foto (von mir oder jemand anders gemacht), eine schwarz-weiße oder farbige Xerokopie oder eine Computergrafik und deren Ausdruck sein. Es kommt auch vor, dass ich auf Bildern anderer Maler male oder irgendein von meinen alten Bildern einem Recycling unterziehe. Die ursprünglichen Bilder übermale ich allerdings nie ganz, sondern benutze zu einem großen Teil deren ursprünglichen Inhalt. Gelegentlich male ich zuerst ein realistisches Bild und füge dann meinen gemalten Kommentar hinzu – ich ziehe daraus eine visuelle, nahezu abstrakte Essenz.

In meiner Malerei will ich das spezifische Bild der Assoziationsketten unseres Unterbewusstseins zeigen, denn an jedes gesehene Bild oder eine Situation aus der Wirklichkeit erinnern wir uns nur teilweise, ohne die millionenfachen Details. Mit der Zeit entwickelt jedes solcher Bilder oder Ereignisse in unserem Bewusstsein eine eigene, individuelle Assoziationskette, an die sich unsere Erfahrungen, Klänge, Gerüche oder andere Eindrücke anschließen, wobei nur wenige von uns sich darüber im Klaren sind, dass wir beim Erinnern solcher Situationen oder Bilder von Personen und Orten nur kleine, für uns wichtige Details sehen, um die sich Assoziationsketten aufgebaut haben. Wenn ich an konkrete Situationen oder Bilder denke, die mich inspiriert haben, versuche ich also zu begreifen, zu sehen, was die Essenz dieser Assoziationen und Erinnerungen ausmacht, so dass jedes meiner Bilder eine spezifische Aufzeichnung dieser Bewusstseinsketten darstellt. Zugleich fliehe ich vor eindeutigen Assoziationen zur Natur, denn die Natur bleibt für uns solange Abstraktion, bis wir gelernt haben, dass der Baum ein Baum und der Berg ein Berg ist. Dennoch ist die Natur für mich immer eine sehr wichtige Inspirationsquelle. Neue Adepten der Malerei stellen meist nicht das, was sie sehen, sondern das, was sie zum jeweiligen Thema wissen. Sehen sie etwa die Hand eines konkreten Menschen, sind sie nicht im Stande, diese Hand zu malen oder zu zeichnen, weil sie wissen, was eine Hand ist, und dieses Wissen verstellt ihnen das Bild eben dieser konkreten Hand (die sich doch von allen anderen Händen auf der Welt unterscheidet). Wenn ich eine Hand male, werfe ich alles Wissen über sie weg und versuche das zu sublimieren, was in diesem Bild das Wichtigste für mich ist, und wenn ich ein realistisches Bild dieser Hand male, zerlege ich es in Primfaktoren und stelle diese Bausteine in meiner eigenen Regie neu zusammen. So verfahren seit Urzeiten alle guten realistischen Maler. Eine von mir gemalte Hand bleibt jedoch nur sehr selten auf meinem Bild intakt. Das passiert mit allen realistischen Darstellungen, die zunächst oft auf meinen Bildern auftauchen. Sie werden für mich zu Ausgangspunkten zu dieser besonderen Wanderung ins Unbekannte.

Einmal habe ich lange Zeit im Freien einen Wald gemalt, den ich vor meinen Augen hatte. Dann trafen dieser Wald und ein Sommer im bulgarischen Dorf Warwara, wo ich mal einen großen seltsamen Stein fotografierte, unvermittelt aufeinander. Als ich den Wald malte, hatte ich zufällig eben dieses Foto als eine schwarz-weiße Xerokopie dabei. Plötzlich entglitt es mir und fiel auf diesen Wald, der allmählich zu verschwinden begann. Ich malte weiter wie in Trance, gab transzendenten Emotionen freien Lauf, schaltete das Denken ganz aus. Dabei kam ein Bild heraus, in dem es sowohl den Wald als auch mein ausbalanciertes Denken über dieses Pleinair sowie meine sentimentale Rückkehr nach Warwara gab (siehe Abb. oben). Lange habe ich überlegt, ob ich mit meiner Malerei einen ganz neuen Stil in der Kunst geschaffen habe, und ich bin immer geneigter, zu behaupten: JA!!! 

Ich nannte diesen meinen Stil:

ABSTRAREALISMUS

Interessanterweise beziehen sich seine Kriterien meiner Meinung nach nicht nur auf die Malerei, sondern auch auf die Musik, den Film, das Theater, die Literatur und die Poesie. In all diesen Bereichen kann man Künstlern begegnen, die nicht mit der Tradition brechen und tiefe Hochachtung vor dem haben, was alte Meister der Malerei oder der Musik in der Vergangenheit geschaffen hatten. Dabei kopieren sie die Meisterwerke der Malerei oder der Komposition aus der Geschichte nicht, sondern bemühen sich, anhand dieser Tradition eine eigene zeitgenössische Sprache zu entwickeln, und träumen davon, diese „Karre paar Zentimeter weiter nach vorne zu schieben“. Hört man Paweł Szymańskis Kompositionen für Klavier im Bachschen Stil, kann man sie leicht mit der Musik von Bach verwechseln, denn sie klingen genauso. Doch wenn man dann die originale Bach-Musik hört, kann man sich nicht täuschen, dass sie vor Jahrhunderten entstanden ist, während die Musik Szymanskis bei ihrer archaischen Sprache doch sehr modern und individuell klingt und, was am Wichtigsten ist, keinesfalls als eine schwache Kopie des Bachschen Stils abgetan werden darf. Paweł Szymański nannte diesen seinen Stil SURKOVENTIONALISMUS, und ich glaube, dass ich ihn problemlos auch meinem Stil ABSTRAREALISMUS einfügen könnte.